Prolog

Unheilswind

 

Der Wind kam aus dem Nichts.

Erhoben hatte er sich aus dem Widerhall eines hämmernden Schicksals. Er trug die Hitze eines Schmiedefeuers, welches den Krieg anheizte, und damit den versengenden Tod vor sich her, lebte im Herzen eines verlorenen Landes auf, kam von einem fremden Ort, der sich zwischen dem befand, was ist, und dem, was nach Sein strebt. Der Wind wehte aus dem Süden, wo die Schlangen aufrecht gehen und uralte Worte sprechen. Tosend erfüllte er lang vergessene Prophezeiungen und stank nach uraltem Bösen. In wilder Ekstase drehte sich der Wind umher, wirbelte aus der Ödnis heraus, hielt inne, suchte sich eine Richtung und wehte dann nach Norden.

 

Während die alte Amme nähte, summte sie ein einfaches Lied vor sich hin, ein Lied, das seit Generationen in ihrer Familie von Mutter zu Tochter weitergegeben worden war. Sie hielt für einen Moment inne und sah von ihrem Nähzeug auf. Ihre beiden Zöglinge lagen mit friedlichen kleinen Gesichtern da und schliefen, träumten ihre kleinen Träume. Gelegentlich zuckten die Fingerchen des einen im Schlaf, oder der andere schmatzte und nuckelte, doch bald fanden die Säuglinge wieder zur Ruhe. Sie waren so hübsche Kinder, und eines Tages würden aus ihnen stattliche Männer werden, dessen war sich die Amme sicher. Als Erwachsene würden sie sich zwar nur noch vage an die Frau erinnern, die in dieser Nacht bei ihnen saß, aber jetzt, in diesem Moment, gehörten sie ihr genauso sehr wie ihrer Mutter, die mit ihrem Gemahl einem festlichen Abendessen vorsaß. Plötzlich drang durch das Fenster ein seltsamer Wind herein, und trotz seiner Wärme fröstelte die Amme. Der Wind trug den Hauch des Fremden mit sich und sang eine mißtönende, böse Melodie, die kaum wahrzunehmen war. Die Amme schauerte und sah zu den Jungen hinüber. Sie wurden unruhig, als wollten sie erwachen und weinen. Die Amme eilte zum Fenster, schloß die Fensterläden und verbannte die seltsame, unruhestiftende Nachtluft aus dem Zimmer. Einen Moment lang schien die Zeit den Atem anzuhalten, und dann, wie mit einem leisen Seufzer, erstarb die Böe, und die Nacht war wieder still. Die Amme zog das Tuch um die Schultern zusammen, die Säuglinge wälzten sich noch einmal in ihren Wiegen hin und her und fielen wieder in tiefen Schlaf.

 

In einem anderen Zimmer, ganz in der Nähe, arbeitete ein junger Mann an einer Liste und versuchte angestrengt, seine persönlichen Vorlieben aus dem Spiel zu lassen, während er entschied, wer am nächsten Tag die weniger angenehmen Aufgaben übernehmen sollte. Er haßte diese Arbeit, dessen ungeachtet erledigte er sie dennoch gewissenhaft. Plötzlich bauschte der Wind die Gardinen auf und drückte sie ins Zimmer. Ohne nachzudenken, war er schon halb auf den Beinen, als ihm sein erprobter sechster Sinn Gefahr signalisierte. Verteidigungsbereit zögerte er einen Moment lang mit klopfendem Herzen und war sich so sicher wie nie zuvor in seinem Leben, daß ihm ein Kampf auf Leben und Tod bevorstand. Als er niemanden entdecken konnte, entspannte sich der junge Mann langsam wieder. Der Moment war vergangen. Verwirrt schüttelte er den Kopf. In seinem Magen machte sich eine eigenartige Übelkeit breit, und er ging hinüber zum Fenster. Die Minuten verstrichen, während er hinaus in die Nacht schaute, in den Norden, wo, wie er wußte, die hohen Berge lagen, hinter denen ein Feind, ein böser Feind, wartete. Der junge Mann kniff die Augen zusammen und starrte in die Dunkelheit, als könnte er so die Gefahren entdecken, die dort draußen lauerten. Dann, als die letzte Anspannung von ihm abgefallen war, kehrte er wieder zu seiner Aufgabe zurück. In den verbliebenen Stunden der Nacht trat er immer wieder ans Fenster und sah hinaus.

 

Draußen in der Stadt bummelte eine Gruppe von Nachtschwärmern durch die Straßen und suchte nach der nächsten Schenke und weiteren fröhlichen Zechkumpanen. Der Wind wehte ihnen entgegen, und sie blieben stehen und sahen sich an. Ein erfahrener Soldat ging zunächst weiter, blieb dann jedoch ebenfalls stehen und dachte nach. Offenbar hatte er plötzlich das Interesse am Feiern verloren, denn er wünschte seinen Zechkumpanen eine gute Nacht und kehrte ins Schloß zurück, wo er seit fast einem Jahr zu Gast war.

 

Der Wind fuhr hinaus aufs Meer, wo ein Schiff nach einer langen Patrouillenfahrt eilig seinen Heimathafen ansteuerte. Der Kapitän, ein hochgewachsener alter Mann mit einer langen Narbe, die sich auf der einen Gesichtshälfte von der Stirn durch das weiße Auge bis zum Kinn zog, hielt inne, als er von der frischen Brise erfaßt wurde. Er wollte schon den Befehl erteilen, die Segel einzuholen, als es ihn mit einem Mal seltsam fröstelte. Der Kapitän sah hinüber zu seinem ersten Maat, einem pockennarbigen Mann, der schon seit Jahren zu seiner Mannschaft gehörte. Sie blickten sich an - dann war der Wind vorbeigezogen. Der Kapitän verharrte noch; schließlich gab er Befehl, Männer in die Takelage zu schicken, und nach einem weiteren Augenblick, in dem alles still geblieben war, ließ er zusätzliche Laternen anzünden, die die plötzlich bedrückende Dunkelheit erhellen sollten.

 

Weiter im Norden blies der Wind durch die Straßen einer Stadt und trieb kleine Staubwirbel auf, die wie ein ausgelassener Hofnarr über das Straßenpflaster tanzten. In dieser Stadt lebten Männer aus einer anderen Welt neben solchen, die hier geboren waren. In der Garnisonsmesse der Soldaten rang einer der Männer aus der anderen Welt gerade mit einem, der nur eine Meile vom Kampfplatz entfernt aufgewachsen war. Rund um die beiden herum wurden währenddessen von den Zuschauern eifrig Wetten abgeschlossen. Jeder Mann hatte den anderen bereits einmal auf den Rücken gelegt; beim nächsten Mal würde der Sieger feststehen. Plötzlich erhob sich der Wind, und die beiden Kontrahenten blieben voreinander stehen und sahen sich um. Staub wehte den Umstehenden in die Augen, und einige der erfahrenen Veteranen mußten einen Schauer unterdrücken. Schweigend verließen die Kämpfer den Ring, und diejenigen, die gewettet hatten, holten sich ohne Widerspruch ihre Einsätze zurück. Still kehrten die Männer in ihre Quartiere zurück. Die ausgelassene Stimmung des Kampfes war mit dem bitterkalten Wind dahingegangen.

 

Die Wind setzte seinen Weg nach Norden fort, bis in einen Wald, in dem kleine, affenähnliche Wesen freundlich und schüchtern in den Ästen hockten. Sie drängten sich aneinander, denn nur in der gegenseitigen Nähe der Körper wurde es so warm, wie sie es mochten. Unter ihnen, auf dem Boden des Waldes, saß ein Mann in meditativer Haltung. Er kauerte im Schneidersitz, seine Handgelenke ruhten auf den Knien, und Daumen und Zeigefinger bildeten einen Kreis, der das Rad des Lebens symbolisierte, dem alle Lebewesen unterworfen sind. Als ihn der dunkle Wind berührte, schlug er die Augen auf und sah das Wesen an, welches ihm gegenübersaß. Es war ein alter Elb - seine Betagtheit ließ sich lediglich an den schwachen Altersmerkmalen seiner Art erkennen -, der den Menschen einen Moment lang betrachtete und die unausgesprochene Frage vom Gesicht des anderen ablas. Er nickte kaum merklich. Der Mensch hob die beiden Waffen an seiner Seite auf. Er schob sowohl das lange als auch das kurze Schwert in die Schärpe, die ihm als Gürtel diente und verabschiedete sich mit einer wortlosen Geste. Dann ging er los, verschwand zwischen den Bäumen des Waldes und begann seine Reise zum Meer. Dort würde er einen anderen Mann suchen, der auch den Titel Elbenfreund trug. Und dort würde er sich auch auf die letzte Schlacht vorbereiten, die bald ihren Anfang nehmen würde. Das Laub raschelte über seinem Kopf, während sich der Krieger auf seinen Weg zum Meer machte.

 

In einem anderen Wald rauschte ebenfalls das Laub, allerdings eher aus Mitgefühl für diejenigen, die der vorbeistreichende Unheilswind beunruhigte. In einer riesigen Sternenwolke zog ein heißer Planet seine Bahn um eine grüngelbe Sonne. Unter der Eiskappe des Nordpols dieser Welt lag ein Zwillingswald von jenem, in dem der Krieger gerade aufgebrochen war. Tief in diesem zweiten Wald saßen Lebewesen im Kreis und wurden von zeitlosem Wissen eingehüllt. Sie wirkten einen Zauber. Um sie herum bildete ein warmes, sanftes Glühen eine Sphäre, und jedes der Wesen saß auf der nackten Erde, doch ihre überaus bunten Roben blieben vom Schmutz des Bodens unberührt. Alle hatten die Augen geschlossen, und sahen dennoch, was sie sehen mußten. Einer, so uralt, daß sich die anderen nicht an seine Anfänge erinnern konnten, saß über dem Kreis. Er schwebte durch die Kraft des Zaubers, den alle gemeinsam wirkten, in der Luft. Das weiße Haar hing ihm auf die Schultern und wurde nur von einem einfachen kupfernen Stirnreif gehalten, dessen einzige Verzierung in einem Jadestein auf der Stirn bestand. Er hatte die Hände in die Höhe gehoben und die Handflächen nach vorn gerichtet. Seine Augen fixierten einen Menschen in schwarzer Robe, der ihm gegenüber schwebte. Dieser andere wurde von geheimnisvollen Energieströmen getragen, die ein Gitter um ihn herum bildeten. Er schickte sein Bewußtsein an den Linien des Gitters entlang und meisterte die fremde Magie. Der in der schwarzen Robe saß da wie ein Spiegelbild des anderen, hatte ebenfalls die Handflächen nach außen gerichtet, doch seine Augen waren geschlossen. Er lernte. Nur mit dem Geist berührte er das Gebilde dieses alten Elbenzaubers, und er fühlte die miteinander verwobenen Kräfte jedes einzelnen Lebewesens im Wald, die vorsichtig aufgenommen und ausgerichtet, doch niemals gezwungen wurden, die Bedürfnisse dieser Gemeinschaft zu erfüllen. So benutzten die Magier ihre Kräfte: Behutsam, doch beständig, sponnen sie die Fasern dieser ewig natürlichen Energien zu einem Faden, den sie für ihre Zwecke verwenden konnten. Der in der schwarzen Robe berührte die Magie mit seinem Geist und erfuhr sie. Er erfuhr, wie seine Kräfte über jedes Ausmaß hinauswuchsen, das ein einfacher Mensch hätte begreifen können, wie sie im Vergleich zu dem, was er einst für die Grenzen seiner Begabung gehalten hatte, gottgleich wurden. Im vergangenen Jahr hatte er vieles gemeistert, trotzdem wußte er, daß er noch vieles lernen mußte. Immerhin gab ihm dieser Unterricht die Mittel an die Hand, andere Quellen des Wissens zu entdecken.

Jetzt war er sich bewußt, jene Geheimnisse, die nur die größten Meister kannten - wie man allein durch Willensstärke zwischen den Welten hin und her wandelte, wie man sich in der Zeit bewegte, und wie man sogar dem Tod ein Schnippchen schlagen konnte -, all diese Geheimnisse konnte er aufdecken. Und da er nun dieses Wissen hatte, würde er eines Tages auch die Mittel finden, mit denen man diese Geheimnisse beherrschte. Wenn ihm genug Zeit gelassen würde. Zeit war das Entscheidende. Das Laub der Bäume raschelte wie ein Echo des fernen Unheilswindes. Der Mann in Schwarz richtete seine dunklen Augen auf das uralte Wesen, das vor ihm schwebte, und beide zogen sich aus dem Gitter zurück. Nur in Gedanken sagte der Mann in Schwarz: So bald, Acaila?

Der andere lächelte, und die blassen, blauen Augen strahlten ein helles Licht aus, ein Licht, welches den Mann in Schwarz entsetzt hatte, als er es zum ersten Mal gesehen hatte. Nun wußte er, dieses Licht rührte von einer tiefen Kraft her, einer Kraft, die über alles hinausging, was er jemals bei einem Sterblichen wahrgenommen hatte. Doch es war eine andere Kraft, keine beeindruckende Macht, sondern eine wohltuende, heilende Kraft des Lebens, der Liebe und der Heiterkeit. Dieses Wesen lebte in wahrer Einheit mit allem, was es umgab. Wenn man in diese Augen sah, wurde man zu einem Ganzen und das Lächeln des Wesens spendete einen kaum faßbaren Trost. Dennoch waren die beiden beunruhigt, als sie jetzt langsam zu Boden sanken. Es war ein ganzes Jahr. Es hätte uns allen geholfen, wenn wir mehr Zeit gehabt hätten, aber leider vergeht die Zeit, wie sie will, und es mag sein, daß du bereit bist. Dann fügte er - in einer Art, die der Mann in der schwarzen Robe als Humor kennengelernt hatte - laut hinzu: »Aber bereit oder nicht, es ist an der Zeit.«

Die anderen erhoben sich gemeinsam, und in der Stille eines Moments fühlte der in der schwarzen Robe, wie sich die anderen in seinem Bewußtsein vereinigten und ihm ein letztes Lebewohl sagten. Sie sandten ihn dorthin zurück, wo ein Krieg im Gange war, ein Krieg, in dem er eine entscheidende Rolle spielen sollte. Aber jetzt, als sie ihn zurückschickten, besaß er weit mehr als das, mit dem er gekommen war. Er spürte die letzte Berührung und sagte: »Ich danke Euch. Ich werde an einen Ort zurückkehren, von dem aus ich schnell nach Hause reisen kann.« Ohne weitere Worte schloß er die Augen und verschwand. Die Wesen im Kreis schwiegen einen Augenblick, dann ging jeder wieder an die Aufgäbe, die ihn oder sie erwartete. Das Laub in den Ästen blieb noch eine Weile ruhelos, und der Widerhall des fernen Unheilswindes ließ nur langsam nach.

 

Der Unheilswind fegte weiter, bis er die Bergkuppe oberhalb eines fernen Tals erreichte, hinter der sich eine Gruppe Männer in gebückter Haltung versteckt hielt. Kurz warfen sie einen Blick gen Süden, als könnten sie so die Ursache dieses seltsamen, beunruhigenden Windes erfahren, dann beobachteten sie wieder die Ebene unter sich. Die beiden, die dem Grat am nächsten waren, hatten einen langen, scharfen Ritt hinter sich, den der Bericht einer Patrouille notwendig gemacht hatte. Auf der Ebene vor ihnen sammelte sich unter dem Banner des Bösen eine Armee. Der Anführer der Patrouille, ein ergrauender, großer Mann mit einer schwarzen Klappe über seinem rechten Auge, duckte sich hinter dem Bergkamm. »Es ist so schlimm, wie wir befürchtet haben«, sagte er mit gedämpfter Stimme.

Der andere Mann, nicht ganz so groß, dafür stämmiger, kratzte sich am grauen Bart, während er sich neben seinen Gefährten hockte. »Nein, es ist noch schlimmer«, flüsterte er. »Nach der Zahl der Lagerfeuer braut sich da unten ein höllischer Sturm zusammen.«

Der Mann mit der Augenklappe saß eine Weile schweigend da. »Nun ja, irgendwie haben wir ein Jahr gewonnen. Ich hatte ihren Angriff schon letzten Sommer erwartet. Glücklicherweise haben wir uns gut vorbereitet, denn jetzt werden sie mit Sicherheit kommen.« Gebückt hastete er zurück dorthin, wo ein großer blonder Mann sein Pferd hielt. »Wollt Ihr noch bleiben?«

Der zweite Mann antwortete: »Ja, ich glaube, ich werde sie noch eine Zeitlang beobachten. Wenn ich zähle, wie viele ankommen und in welchen Abständen, kann ich vielleicht schätzen, wie viele er insgesamt bringen wird.«

Der Führer stieg auf. Der blonde Mann sagte: »Was soll's schon? Wenn er kommt, bringt er alles mit, was er hat.«

»Ich mag nur einfach keine Überraschungen.«

»Wie lange?« fragte der erste Mann.

»Zwei, höchstens drei Tage, dann wird die Gegend hier zu bevölkert sein.«

»Sie werden auch jetzt sicherlich schon Patrouillen ausgeschickt haben. Höchstens zwei Tage.« Und mit einem verbissenen Lächeln fügte er hinzu: »Ihr seid zwar nicht gerade die allerbeste Gesellschaft, aber nach zwei Jahren habe ich mich doch sehr an Euch gewöhnt. Seid vorsichtig.«

Über das Gesicht des zweiten Mannes huschte ein breites Grinsen. »Das beruht auf Gegenseitigkeit. Ihr habt ihnen in den letzten beiden Jahren reichlich zugesetzt, und sie möchten Euch zu gerne in ihre Finger bekommen. Euer Kopf würde auf einer Lanze vor den Stadttoren enden.«

Der blonde Mann sagte: »Soweit wird es nicht kommen.« Sein offenes Lächeln stand im Gegensatz zu seiner Stimme, die jene Entschlossenheit verkündete, welche die anderen beiden nur zu gut kannten.

»Achtet nur darauf, daß es nicht dazu kommt. Und nun macht Euch auf.«

Die Kompanie ritt davon, nur einer der Reiter blieb zurück, um den stämmigen Mann bei seiner Erkundung zu begleiten. Nachdem er die Szene vor sich eine ganze Weile beobachtet hatte, murmelte der Stämmige leise: »Was hat er jetzt wieder vor, dieser Bastard eines mutterlosen Hurenbocks? Was haben wir diesen Sommer zu erwarten, Murmandamus?«